Der Protagonist, die zentrale Figur einer Geschichte, sprich: der Held, braucht einen Gegenspieler, mit dem er um das Erreichen des wie auch immer gearteten Ziels kämpfen kann. Ohne Widerpart keine Spannung. In einer absolut klassischen Konstellation ist der Polizist oder Detektiv der Protagonist, der den Verbrecher, den Antagonisten jagt. Der eine will genau das, was der andere mit allen Mitteln verhindern möchte. Eine andere Möglichkeit wäre, dass zwei Figuren um das gleiche Ziel kämpfen, das nur einer erreichen kann, beispielsweise als Erster eine Station am Südpol erreichen oder die Beförderung bekommen. Eine Auseinandersetzung zwischen Protagonist und Antagonist muss nicht notwendigerweise ein verbissener Kampf zwischen erklärten Gegnern sein. In einer humorvollen Geschichte, in der eine Kinderärztin ein so gut wie gar nicht krankes Kind behandelt, während die besorgte Mutter alles besser weiß, wäre die Mutter der Antagonist.
Ebenso ist es möglich, dass der Antagonist keine individuelle Figur ist, sondern die Gesellschaft, die Familie, eine Behörde, vielleicht sogar eine dem Protagonisten innewohnende Charakterschwäche.
Ausgeglichenes Kräfteverhältnis
Um das Duell der beiden Figuren (wovon wir der Einfachheit halber ausgehen wollen) so interessant und spannend wie möglich zu gestalten, sollten beide etwa gleich stark sein. Sie müssen nicht die gleichen Stärken besitzen, sondern können dem anderen auf verschiedenen Gebieten überlegen sein, aber in der Endsumme sollten sie ebenbürtige Gegner sein. Auf diese Weise kann der Ausgang lange offen bleiben, Teilsiege können errungen und Rückschläge müssen verkraftet werden.
Die interessantesten Möglichkeiten stecken wahrscheinlich in der Auseinandersetzung zweier Parteien, bei denen beide „das Gute“ verkörpern, beide einen moralisch unbedenklichen Antrieb und das Recht auf ihrer Seite haben.
Entwirft man jedoch als Antagonist einen echten „Bösewicht“, sollte man dafür Sorge tragen, dass er nicht durch und durch böse und somit völlig eindimensional ist, das wäre trivial und langweilig.
Die Faszination des Bösen
Nicht das abgrundtief Böse ruft Schaudern hervor, sondern eher das Böse im menschlichen Antlitz oder die Tatsache, wie nah gut und böse beieinander liegen. Gute Gründe, um den Charakter des Antagonisten und seine Biographie sorgfältig zu gestalten. Dabei sind einige Punkte zu beachten.
Der Leser, und erst recht der Autor, sollten wissen, warum der Antagonist so geworden ist. Was hat ihn geprägt? Was ist sein Antrieb?
Man kann noch so unmoralisch und verwerflich handeln, selber hat man eine einleuchtende Erklärung für diese Taten und sieht sich in einem guten Licht. Auch der Antagonist braucht eine stabile Selbstrechtfertigung – und sei sie noch so abwegig.
Nicht zuletzt hat auch der Bösewicht Die guten Seiten des bösen Gegenspielers. Wer von einem Serienmörder erzählt, könnte ihn mit einem trockenen Humor ausrüsten und ihn zeigen, wie er seinen Kindern Biomüsli zum Frühstück serviert und darauf besteht, dass sie nicht ohne Schal das Haus verlassen.
Teuflisches Vorbild
Der großartigste Antagonist der deutschsprachigen Literatur ist Mephisto in Goethes Faust. Eher Verführer denn Vernichter geht von ihm eine Faszination aus, der sich weder der Protagonist, also Faust, noch die Leser entziehen können.
Dieser Text wurde 2008 im Online-Magazin Suite101 veröffentlicht. Weil dieses Magazin nicht mehr existiert, veröffentliche ich ein paar alte Beiträge erneut hier im Blog.